Leben in Harmonie
Die Erdölrebellen aus Ecuador
Lehren aus dem Urwald
Fünf Stunden tuckert das Boot mit dem Aussenbordmotor die unendlichen Windungen des Bobonazo-Flusses im Amazonasgebiet Ecuadors entlang. Fünf Stunden von Canelos nach Sarayaku, eine Strecke, die in Luftlinie keine 50 Kilometer Entfernung überwindet. Fünf Stunden auf einem schmalen Brett sitzend, der knallenden Sonne ebenso ausgeliefert wie dem überfallartigen Platzregen, der typisch ist für die Region. „Fünf Stunden sind ein guter Schnitt“, grinst Bootsführer Humberto Huilo. „Bei Niedrigwasser können es auch mal sieben werden.“ Es ist, wie so vieles in Sarayaku, eine kleine Lektion: Eine über die Zeitläufte am Amazonas, wo die Natur den Rhythmus bestimmt, nicht die Uhren.Leben in Harmonie: Eindrücke und Interviews zu Sarayaku (3:33)
Stoisch lenkt der 31-Jährige das Boot durch die Stromschnellen, vorbei an riesigen Ceiba-Bäumen, weissen Sandbuchten mit bunten Schmetterlingsschwärmen und scharfkantigen Felsen. Schnell werden die Spuren der Zivilisation weniger: Eine Schotterpiste verliert sich am Horizont, kurzzeitig blitzen Rohre einer Erdölpipeline auf und verlieren sich wieder, irgendwann passiert das Boot eine überdimensionale Anlegestelle aus Beton, die sich gefährlich schräg ins Wasser neigt. Ein Geschenk der Regierung, die den Indigenen die Errungenschaften der Zivilisation nahebringen wollte. Eines der vielen, wilden Hochwasser hat den Steg unterspült und die Pfeiler weggerissen. „Der ist unbrauchbar“, kommentiert der Bootsmann trocken. In seinem Heimatdorf Sarayaku legt man daher an wie eh und je – am schlammigen Ufer, von dem aus vier Dutzend Stufen auf den höher gelegenen Dorfplatz führen.
Gesichtsbemalung und Smartphones
Was anmutet wie ein buntes kulturelles Potpourri, gehorcht strengen Regeln: „Unsere Jugend bekommt Unterricht auf Spanisch und Kichwa“, erläutert Patricia Gualinga. Sie ist so etwas wie die internationale Botschafterin Sarayakus. „Kinder lernen Mathematik ebenso wie unsere alten Mythen.“ Dank Partnerschaften mit der Kirche und ausländischen Hilfsorganisationen gibt es sogar Foto- und Computerkurse oder auch Kampfsport.
Dort wartet dann eine Überraschung: Die Häuser der 1400 Einwohner sind zwar traditionell aus Holz gebaut und mit Palmwedeln gedeckt, doch sie haben dank Solarpaneln Strom. Gekocht wird auf offenem Holzfeuer, aber es gibt ein Internetcafé, das per Satellit funktioniert – wenn nicht gerade ein Gewitter niedergeht. Und in der grossen Versammlungshütte wartet ein buntes Begrüssungskomitee: Streng dreinblickende ältere Männer und Frauen mit dem traditionellen hölzernen Herrscherstab, viele mit der traditionellen, schwarzen Gesichtsbemalung. Flankiert werden sie von jungen Männern und Frauen an Laptops, mit Spiegelreflexkameras und Smartphones in den Händen. Ein kleines Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, blättert versunken in einem spanischen Märchenbuch.
Uns geht es darum, den Fortschritt zu dosieren.
Patricia Gualinga
Doch die Unterweisung in der Jagd mit dem Blasrohr, in der Fischerei mit Lianengift, in traditioneller Körpermalerei oder Töpferkunst, mit der sich viele Frauen ein Zubrot verdienen, kommt deshalb nicht zu kurz. Eine Fluglinie und eine Gemeinschaftsbank gibt es im Dorf. Strassen, Alkohol und Erdölkonzerne hingegen sind tabu. „Uns geht es darum, den Fortschritt zu dosieren und zu kontrollieren, wer in unser Gebiet kommt, denn wir wollen selber entscheiden, was für uns wichtig ist und was nicht“, resümiert Gualinga.
Selbstbestimmtes Leben in Harmonie
„Sumak kawsay“, die Philosophie vom Guten Leben, ist in Sarayaku oberstes Gesetz. Was genau darunter zu verstehen ist, darüber diskutieren westliche Philosophen und Ökonomen endlos – doch für die Bewohner von Sarayaku ist dies klar: „Ein selbstbestimmtes Leben in Harmonie mit der Natur und der Menschen untereinander“, sagt Gualinga. Und das bedeutet manchmal auch Verzicht. Mit Lianengift gefischt werden darf nur alle sechs Monate, damit der Fischbestand nicht gefährdet wird. Die grosse kollektive Jagd, die früher halbjährlich stattfand, steht nun nur noch alle zwei Jahre auf dem Programm, weil die Zahl der Wildtiere stark abgenommen hat. Stattdessen gibt es jetzt von der örtlichen Bank Geld für Fischteiche.

„Wir sind ein Volk des Widerstands, Erben grosser Krieger“, erzählt Patricias Onkel José Gualinga (54) stolz. Der Kampfgeist wurde vor 20 Jahren auf eine harte Probe gestellt, als aus dem Nichts ein Hubschrauber auf dem Dorfplatz landete, dem weisse Männer entstiegen und der Dorfgemeinschaft eröffneten, auf ihrem Stammesgebiet werde jetzt nach Erdöl gebohrt, weil die Bodenschätze der Nation gehörten und nicht ihnen. José, damals Curaca (Anführer) hatte diesen Tag gefürchtet. Er wusste von anderen Völkern um die Macht des schwarzen Goldes. Deshalb hatte er sein Volk vorbereitet. Gemeinsam hatten sie sich schon lange vor diesem Schicksalstag gegen die Erdölförderung entschieden.
Dem Geld die Stirn bieten
„Die Pumpen erschrecken die Tiere, die Gase verschmutzen die Luft, die Rückhaltebecken mit dem Bohrschlamm vergiften unser Wasser, die Strassen zerstören unsere Kultur und korrumpieren unsere Jugend“, sagt Patricia. „Der Erdölwohlstand ist nur vorübergehend. Wir aber leben vom Regenwald, der durch die Ölförderung zerstört wird. Öl können unsere Kinder nicht essen.“ Doch mit Argumenten, Bogen und Lanze war diesen übermächtigen Feinden nicht beizukommen. Das begriffen die Einwohner von Sarayaku schnell. Dass die Indigenas ihre Missbilligung deutlich machten, dass sie Landtitel hatten und ein Recht darauf, vor solchen einschneidenden Massnahmen konsultiert zu werden, all das wog wenig gegen die kombinierte Macht von Staat und Geld. Der Konzern bot dem Stamm 10.000 US-Dollar, dann immer mehr, und mit jedem „nein“ wurde der Druck grösser.
Den Befreiungsschlag brachte schliesslich ein Amateurvideo über den Einfall der Konzerne, gefilmt von Patricias Bruder Eriberto, das von Sympathisanten in die sozialen Netzwerke gestellt wurde und eine Welle internationaler Solidarität auslöste. Dutzende ausländischer Besucher kamen in den kommenden Jahren nach Sarayaku. „Da verstanden wir die Macht der Kommunikation“, sagt Gualinga.
Öl können unsere Kinder nicht essen.
Patricia Gualinga
Immer wieder marschierten die Indigenas in die Hauptstadt Quito, um zu protestieren. 2012 entschied der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof zu ihren Gunsten und verurteilte den ecuadorianischen Staat wegen Missachtung der Rechte traditioneller Völker zu einer Entschädigungszahlung von 1,2 Millionen US-Dollar. Davon wurden die örtliche Gemeinschaftsbank, Stipendien für Jugendliche und die Fluglinie „Aerosarayaku“ finanziert. „Die Fluglinie ist wichtig, weil wir mit der Aussenwelt Kontakt haben wollen, wenn zum Beispiel jemand von einer Schlange gebissen wird, kann er so schnell ausgeflogen werden“, erzählt Samai Gualinga. “Eine Bank brauchen wir, um Projekte zu finanzieren, Fischzucht oder kommunitären Tourismus“, fährt sie fort. Und für das Stipendium ist sie selbst ein gutes Beispiel. Die 29-Jährige konnte so in Quito Design studieren und entwirft nun die bunten Logos der Kampagnen. Viele junge Leute sind gut ausgebildet und wollen dies in den Dienste ihres Volkes stellen. Rony (23) zum Beispiel hat Tourismus studiert und plant ein Programm für Ornithologen zur Vogelbeobachtung in Sarayaku. Ein Rundhaus für Touristen ist gerade im Bau.
Gemeinschaft gross geschrieben
Weitsicht, Hartnäckigkeit und Zusammenhalt unterscheiden Sarayaku von anderen Indigenagemeinden. Grundlage ist eine ausgeklügelte, politische Organisation. Die Ämter rotieren, so dass kein Clan zu kurz kommt. Alle Entscheidungen werden in stundenlangen Versammlungen so lange diskutiert, bis ein Konsens gefunden ist, der dann von allen mitgetragen wird. Gemeinschaftsleben, Gemeinschaftsarbeit und gemeinsame Feste werden gross geschrieben. Kontrovers wird diskutiert und anschliessend abgestimmt. So haben die Indigenas beschlossen, keine evangelikalen Kirchen ins Dorf zu lassen und keine politische Propaganda zuzulassen. Denn beides spaltet und trägt Konflikte ins Dorf, befanden sie auf einer Versammlung.
Als Carlos Viteri aus Sarayaku in die Politik ging – in den Reihen von Alianza País des linkspopulistischen Expräsidenten Rafael Correa – wurde er instruiert, nicht im Namen der Gemeinde zu sprechen und zuhause keine politische Propaganda zu machen. Die Beziehungen von Correa und der Gemeinde von Sarayaku blieben immer angespannt. Die politische Vereinnahmung der Indigenen durch Politiker ist ein heikles Thema: „Carlos lebt jetzt in Quito und ist nur noch selten hier“, winkt Patricia Gualinga ab. „Natürlich gehört er zu uns, aber er ist nichts Besonderes und muss sich einfügen wie alle.“
Auch der Vorschlag von José Gualinga, international CO2-Zertifikate auszugeben und damit neue Projekte zu finanzieren, scheiterte. Gualinga bedauert das. „Es ist eine komplexe Materie, und die meisten haben nicht wirklich verstanden, worum es geht“, seufzt der 54-Jährige. Stattdessen sucht er jetzt Alternativen. Private Förderer zum Beispiel, so wie einen Krabbenunternehmer, der in Sarayaku in den Ökotourismus einsteigen möchte. Auch das ist nicht unumstritten. Manche im Dorf fürchten, dass ihnen dann die Kontrolle über die weitere Entwicklung entgleitet – und dass der Geldzufluss Ungleichheit und damit Unfrieden schürt.
Deshalb achtet der Direktor der Gemeinschaftsbank auf Ausgewogenheit bei der Kreditvergabe. Die „Bankzentrale“ ist ein Holzhaus direkt neben der Gemeinschaftshütte. Die Buchhaltung ist akribisch – per Laptop und auf Papier wird alles notiert. Die meisten Kredite gab es in letzter Zeit für Fischteiche. Davon erhoffen sich die Familien eine zusätzliche Einnahmequelle. Auf den angestaubten Aktenordnern im Schrank prangen die Namen der fünf grossen Familienclans von Sarayaku. Noch sind die Ordner ungefähr alle gleich dick.
