Die Felder des Überflusses
Indigene Traditionen als Antwort auf neue Herausforderungen
G uanabara III. “Wir machen hier Chaos mit System”, lacht Juan Pablo Zárate und schwingt seine Machete im Dickicht des brasilianischen Regenwalds. Wir weichen den beherzten Schlägen aus und bemühen uns zu verstehen, warum die Teilnehmer seines Waldgarten-Workshops namens „Aula Viva“ (lebendiges Klassenzimmer) Maniok neben Ananas setzen, wieso die Stachelpalme der Machete zum Opfer fällt und der Lapacho stehen bleiben darf. Rund fünf Dutzend Teilnehmer, mit Macheten, Stöcken und Kettensägen ausgerüstet, sind trotz der schweisstreibenden Arbeit in der Tropenhitze, trotz Moskitos und Feuerameisen, mit Begeisterung dabei und helfen sich gegenseitig. Kleinbauern sind darunter, viele Indigene aus Peru, Kolumbien und Brasilien, Ordensleute und Vertreter von NGOs. Nur die bolivianische Delegation hat es nicht geschafft, weil der Flug wegen schlechten Wetters gestrichen wurde - Normalität im amazonischen Dreiländereck zwischen Peru, Kolumbien und Brasilien.
Video zur Reportage: Das lebende Klassenzimmer
Waldgärten statt Brandrodung
Mittendrin ist Schwester Clistanes Silva. Kaum zu entdecken im Gestrüpp ist die 1,52 kleine Ordensfrau. Sie hält kurz inne und wischt den Schweiss von der Stirn. Ihre Mitstreiter zerlegen so lange den gerade gefällten Baum in kleine Stücke und verteilen Äste und Holz ringsherum auf dem Boden. „Als ich dem Orden beigetreten bin, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich einmal Bäume fälle“, schmunzelt die 50jährige von den Töchtern des Unbefleckten Herzens Maria. Aber im Amazonasregenwald ist vieles ein wenig anders als in ihrer Heimat am Meer im Nordosten Brasiliens. Als sie vor fünf Jahren auf die Missionsstation Sao Paolo de Olivenca im Bundesstaat Amazonas versetzt wurde, rechnete sie mit dem normalen Missionsalltag: Krankenbesuche, Seelsorge, Gottesdienste, Pastoralarbeit.
Viele Projekte sind dazu da,
Indigene in Abhängigkeit zu haltenSchwester Clistanes
Jetzt legt sie stattdessen mit Männern und Frauen der Ethnie Tikuna ein „Feld des Überflusses“ an. Knapp so gross wie ein Fussballplatz, ausreichend, um ein bis zwei Jahre lang eine Familie zu ernähren - wenn man weiss wie. Und das ist der Clou an dem Kurs, den Zárate anleitet. „Eigentlich haben die Indigenen immer schon so gewirtschaftet“, erzählt der Kolumbianer. Das heisst, kleine Waldgärten im Dschungel, gemeinschaftlich angelegt - ohne Brandrodung, denn das tötet Tiere und stört das Gleichgewicht des ohnehin nährstoffarmen Urwaldbodens. Nur sind diese Methoden unter dem Einfluss der westlichen Zivilisation in Vergessenheit geraten. Deren Einfluss ist klar sichtbar in der Gastgebergemeinde Guanabara III am Oberlauf des Amazonas.
Der Irrweg vom
Fortschritt als Einbahnstrasse
„Ich weiss gar nicht so recht, weshalb und wann wir damit aufgehört haben“, schüttelt der indigene Kazike Fernandes den Kopf. Es war wohl die falsche Vorstellung vom „Fortschritt“, der Wunsch, so zu leben wie die Weissen: Siedler bauen wenige Produkte grossflächig an und verkaufen den Überschuss in der Stadt, wo sie meist auch leben. Politiker verschenken im Wahlkampf Dünger oder landwirtschaftliche Geräte, der Staat legt Projekte auf und verspricht Märkte und Abnehmer – mal für Kautschuk, dann für Assai, Reis oder Kakao. Meist werden die Projekte eingestellt, wenn die Regierung wechselt - und noch bevor die erste Ernte reif ist. Zurück bleiben Ruinen des Fortschritts und die Bauern mit ihrer Ernte ohne Abnehmer. Die brandgerodeten Felder leiden schnell unter Erosion und Unfruchtbarkeit. Trotzdem lassen sich die Indigenen einreden, das sei Modernität. So kommt es zu Mangel- und Unterernährung, mitten im Überfluss einer so gigantischen Speisekammer wie dem Amazonas. „Wir wurden blind, wir haben einfach nicht mehr gesehen, was wir alles haben, sondern nur noch das, was wir nicht haben”, sagt Fernandes.
Ruinen des Fortschritts im Dschungel
Kazike Eladio Fernandes
Schwester Clistanes sah die Probleme, sah die Armut, sah einen Staat, der zwischen Vernachlässigung und Paternalismus erratisch hin- und her schwankte. Doch ihr fehlte das Instrument, um die Lebenssituation der Menschen in ihrer Region zu verbessern. „2015 lud uns Fucai auf eine Schulung über Waldgärten ein. Dabei fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und gemeinsam haben wir vier Schwestern beschlossen, dass wir das umsetzen wollen“, erzählt sie mit leuchtenden Augen. Zuerst wurde der eigene Garten umgestellt – als Training sozusagen. Fucai stellte den Schwestern dann einen Agronomen zur Seite, der Schulungen abhielt und bei technischen Fragen beistand. Inzwischen nehmen 80 Familien im Umkreis von Sao Paolo de Olivenca am Programm der Schwestern teil. Die Schwestern ergänzten den agronomischen Teil mit einem kulinarischen. Sie geben nun auch Ernährungs- und Kochkurse mit amazonischen Produkten. Das wertet die regionalen Produkte auf gegenüber von aussen eingeflogenen Nahrungsmitteln, die oft mit viel Pestiziden industriell hergestellt wurden.
Es ist schwer, Menschen aus ihrer Routine zu holen
Divaney Kokama
So wie die Schwestern betreiben es inzwischen immer mehr indigene Gemeinden. „Ich komme schon im zweiten Jahr ohne Brandrodung aus“, erzählt Divaney Kokama aus Nova Jordania stolz. „Es arbeitet sich leichter und angenehmer mit dem System, und die Ernährung der Familie hat sich verbessert. Früher assen wir vor allem Maniokmehl und Fisch. Jetzt gibt es immer auch leckere Säfte und Obst“, erzählt der 47jährige. „Industrielle Lebensmittel kaufen wir fast gar nicht mehr. Stattdessen kaufe ich vom dem Geld für meine vier Kinder Schulsachen oder Kleider.“ Anfangs waren Divaney und drei Nachbarn die einzigen, die das neue System ausprobierten. „Keiner glaubte daran. Es ist sehr schwer, die Menschen von etwas Neuem zu überzeugen und sie aus ihrer Routine zu holen, selbst wenn sie sehen, dass sie damit nicht vorankommen“, erzählt er.
Eine weitere Eingangshürde ist, dass Fucai im Gegensatz zum üblichen Vorgehen des Staates und vieler Nicht-Regierungs-Organisationen weder ein Startkapital gibt noch Materialien verschenkt. „Das einzige, was wir weitergeben, ist Wissen“, betont Zárate. Auch das ist ein Bruch mit westlichen Unsitten, an die sich die Indigenen gewöhnt haben. „Die meisten Projekte sind dazu da, die Indigenen in Abhängigkeit zu halten“, kritisiert Schwester Clistanes. „Oft bekommen sie nämlich nur Kredite für ihre produktiven Projekte, die dann zurück bezahlt werden müssen und sie in die Schuldenfalle treiben.“
Doch in Nova Jordania macht Divaneys Beispiel Schule. Immer mehr Gemeindemitglieder holten sich bei ihm Rat und besuchten schliesslich selber eine Aula Viva. „Das früher starke Gemeinschaftsgefühl der Indigenen ist durch den westlichen Einfluss zerstört worden“, erzählt Schwester Clistanes. „Ebenso wie die kulturelle und spirituelle Eigenheit der Amazonasvölker. Beides erhält durch die Aula Viva neue Nahrung.“
Essbares Mandala
Denn deren Didaktik und Riten sind ganz auf die Flussanrainer und Ureinwohner abgestimmt. Gruppendynamische Spiele arbeiten den Gegensatz zwischen Überfluss und Mangel heraus – und die Rolle, die unsere Wahrnehmung dabei spielt. Immer wieder wird der lokale Überfluss in Szene gesetzt – etwa wenn das Team Überfluss und das Team Mangel in einen Wettstreit im Tauziehen gegeneinander antreten. Oder wenn geerntet wird und die Produkte wie bei Erntedank auf einem grossen Mandala aus Bananenblättern ausgebreitet werden. „So viel wächst hier im Regenwald?“ sagt Fernandes erstaunt. Und als ihm dann Schwester Clistanes und die indigene Küchenchefin Irasete Coelho vorführen, wie viele unterschiedliche Gerichte man aus Maniok, Bananen, Kürbis, Amazonasfischen und Palm- und Tropenfrüchten kochen kann, ist er noch erstaunter. „Wir haben hier 35 verschiedene Gerichte auf der Basis von Maniok“, erklärt Coelho den Seminarteilnehmern. Das bunte Allerlei und der Duft aus den grossen Töpfen lassen verführerisch das Wasser im Munde zusammenlaufen.
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Dom Erwin: Der Bischof der Armen
„Ich bin Brasilianer mit österreichischen Wurzeln“, sagt Erwin Kräutler. In der Region Xingú kennt ihn fast jeder als „Dom Erwin“. Die einen verehren den ehemaligen Bischof und Prälat von Xingú, für die anderen ist der streitbare Kirchenmensch ein rotes Tuch.
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Land zum Leben oder Land als Ware?
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MARTIN VON HILDEBRAND
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