Apokalypse am Amazonas
Bedrohungen und Chancen für den Regenwald
Wenn sich vor dem Flugzeugfenster stundenlang nichts als mäandernde Flüsse und ein dichtes Blätterdach ausbreiten, dann befinden wir uns über Amazonien. Oft sieht man allerdings gar nichts, denn die dicken Regenwolken lassen keinen Blick auf die darunter liegende Landschaft zu. Stattdessen verursachen sie unangenehme Turbulenzen. Der Mensch, das wird schnell klar, ist hier den Launen der Natur ausgeliefert.
Wissenschaftliches Labor und Mythos
Die Exotik Amazoniens, wo bis heute indigene Stämme in absoluter Isolation von der westlichen Welt leben, hat die Fantasie der Menschheit schon immer beflügelt. Angefangen bei der Namensgebung: Der spanische Entdecker Francisco de Orellana befuhr als erster Europäer 1541 den zweitlängsten Fluss der Welt. Als er nach Europa zurückkehrte, erzählte er von Angriffen weiblicher Kriegerinnen, die er mit den griechischen Mythengestalten der Amazonen gleichsetzte.
Wald grösser als die EU
Von Europa aus sind die Dimensionen des südamerikanischen Regenwaldes schwer vorstellbar: Er erstreckt sich über neun Länder und eine Fläche, die grösser ist als die der Europäischen Union. Wäre Amazonien ein Land, wäre es das neuntgrösste weltweit. Die Amazonasregion macht die Hälfte des auf der Welt noch vorhandenen Regenwalds aus und beherbergt die grössten Süsswasservorräte der Erde. Auch rund 10% der Tier- und Pflanzenarten der Welt leben hier. Für Wissenschaftler ist Amazonien ein riesiges Labor. Nur ein Bruchteil der Pflanzen- und Tierarten sind katalogisiert, erst rund 1% sind erforscht.
Welche Rolle der Regenwald für das Weltklima spielt – nicht nur als CO2-Speicher, sondern auch als Klimaregulator – ist in den letzten Jahren dank Studien von Wissenschaftlern wie dem Brasilianer Antonio Donato Nobre klar geworden. Ohne Amazonien, warnt Nobre, werden sich die Savannen südlich des Regenwaldes in Wüste verwandeln. Heute sind sie eine extrem fruchbare Kornkammer, in der Brasilien einen Grossteil seiner Agrarexporte (Soja, Mais, Fleisch) produziert.
Dramatischer Interessenscocktail
Doch der Druck auf Amazonien wächst. Rund 20% des Regenwaldes sind bereits abgeholzt. „Das ist das Limit, und der Klimamotor stottert bereits“, warnt Nobre. Die immer länger und häufger werdenden Dürreperioden am Amazonas und in Südbrasilien sieht er als Warnzeichen. Dass die Politiker nicht agieren, sondern getrieben und finanziert von einflussreichen Lobbies der Agrar- und Fleischwirtschaft der Abholzung Vorschub leisten, ist für ihn ein Drama, das einem „Selbstmord der Menschheit“ gleichkommt.
Den Anschub für die Abholzung gab der Bau der Transamazonischen Strasse unter Brasiliens Militärdiktatur in den 70er Jahren. Die Generäle wollten das weitgehend unberührte Gebiet besiedeln und wirtschaftlich nutzen, um den Souveränitätsanspruch Brasiliens zu untermauern. Sie wussten um den Wert des Wassers, der Bodenschätze und der Artenvielfalt und wollten verhindern, dass diese fremden Mächten in die Hände fallen.
Der Klimamotor stottertAntonio Nobre
Bis heute fürchtet Brasilien eine ausländische Intervention in Amazonien und reagiert sensibel auf alles, was den Anschein ausländischer Einmischung erweckt – auch allzu eifrige Bestrebungen von Nicht-Regierungs-Organisationen, Schutzgebiete einzurichten.
Heute wird der Regenwald vor allem für Infrastrukturprojekte (Staudämme), Edelhölzer, Soja und Viehweiden abgeholzt; seine Flüsse werden durch Quecksilber der Goldsucher verschmutzt. Die indigenen Völker, die über Jahrhunderte in Harmonie mit der Natur lebten und sich dank internationaler Konventionen und Unterstützung Schutzgebiete erkämpft haben, werden bedrängt, bedroht und korrumpiert.
Ideen für eine andere Zukunft
Profitgierige Unternehmen und korrupte Regierungen unterhöhlen den rechtlichen Status von Natur- und Indigena-Schutzgebieten oder streichen einfach die Gelder für die Behörden, die einst zu ihrem Schutz abgestellt wurden. Verstösse werden nicht mehr geahndet, weil Richter und Staatsanwälte bedroht und ermordet werden oder die Anweisung haben, nichts mehr zu tun. Die Idee der Schutzgebiete stösst so an Grenzen. Was aber könnte den Regenwald wirklich schützen?
Wir sind in dieser Multimediaproduktion der Frage nachgegangen und stellen vier Ideen vor. Allen liegt der Gedanke zugrunde, dass die Menschheit lernt, mit der Natur in Harmonie zu leben und ihre Ressourcen für eine effektivere und nachhaltigere Art des Wirtschaftens zu nutzen.
Inspirierende Reise zu anderen Modellen
Unsere Reise beginnt an der Quelle der Amazonas-Flüsse im Hochland der Anden, führt über den organisierten Widerstand gegen Erdölförderung im Regenwald, in die wieder entdeckten Waldgärten indigener Gemeinden und endet in den Sojafeldern, die sich von Süden her kommend in den Regenwald hineinfressen.
Wir stellen inspirierende Menschen vor wie den Schweizer Agronomen Ernst Götsch, der eine Agroforst-Revolution für die Landwirtschaft vorantreibt, oder den ecuadorianischen Ökonomen Alberto Acosta, Mitglied im Internationalen Tribunal für die Rechte der Natur, der einen neuen Lebensstil propagiert, basierend auf der indigenen Philosophie vom „Guten Leben“.
INTERVIEW MIT Antonio Nobre
Fliegende Flüsse
Der Experte vom Institut für Weltraumforschungen (INPE) hat die Rolle des Amazonas für das Weltklima erforscht und warnt vor „menschengemachten Wüsten“ durch die Abholzung. Es wäre das Ende für Brasiliens Landwirtschaft.